Grünzeug ohne Sonne
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Giessen Seit fünf Jahren baut Robin Jörg in der früheren fischbörse Keimlinge an und expandiert
Robin Jörg liegt die Zukunft der Erde am Herzen. er klebt sich aber nicht irgendwo fest, um wirtschaftlichen Schaden anzurichten und Aufmerksamkeit zu gewinnen, damit Andere etwas tun. Er krempelt selbst die Ärmel hoch. Der Dreißigjährige will etwas bewegen – und zwar nachhaltig. an seinem Computerbildschirm hängt ein Foto von Elon Musk, den er für dessen Innovationskraft bewundert. Um einen möglichst grünen Fußabdruck zu hinterlassen, hat sich Jörg dem Vertical Farming verschrieben, der Landwirtschaft, die statt in die Fläche in die Höhe geht, beispielsweise in ehemaligen Gewerbeimmobilien.
Die von Jörg Ende 2018 gegründete Firma Farm Up nutzt in Gießen ein ehemals als Fischbörse und später als Blumengroßhandel genutztes Gebäude direkt an der Lahn, das vorher leer stand. Inklusive der Räume für Vorbereitung, Verpackung und Büro stehen 220 Quadratmeter zur Verfügung. Auf einer Produktionsfläche von 50 Quadratmetern werden auf acht Ebenen Microgreens (zu Deutsch: Keimlinge) angebaut – die Sonne sehen sie nie. in den Beiden von rötlichen LEDs erleuchteten Räumen ist es feuchtwarm. im Hintergrund erklingt klassische Musik.
Ob das Pflanzenwachstum dadurch angeregt wird? „Schaden kann es auf alle Fälle nicht“, sagt der Jungunternehmer. 15 Sorten von Keimlingen sprießen in den bewässerten Nährstoffschalen: Erbsen, Radieschen, Knoblauch, Senf, Gurke, Rotkohl, Brokkoli, Fenchel, Dill, Koriander, Rucola, Wasabi, Basilikum, Chili und süße Erbsen. Geerntet und neu gepflanzt wird montags und donnerstags. Alles Handarbeit. Der Ertrag ist, wie Jörg berichtet, immer gleich, da Wettereinflüsse und Krankheiten keine Rolle spielen. Rund 1000 Mehrwegkisten à 30 × 40 Zentimeter packten dann die zwölf Mitarbeiter für die Kunden. „Gaumenfeuerwerk“ nennt Robin Jörg den mix mit sechs verschiedenen Sorten. Ausgeliefert werden aber auch sortenreine Kisten. Die Samen für die Keimlinge werden auf bewässerte Hanfmatten gesetzt. Der Wachstumszyklus beträgt je nach Sorte fünf bis zehn Tage. Die Vorteile von Microgreens beschreibt Jörg so: „Frei von Gentechnik, Pflanzenschutzmitteln, Dünger, Hormonen und Antibiotika. Die Keimlinge enthalten 40- bis 260-mal mehr Vitamine und Nährstoffe. als das ausgewachsene Gemüse, da sich die im Wachstum auf die ganze Pflanze verteilen.“
Für Robin Jörg sind die Microgreens nicht nur ein Geschäft, sondern auch Überzeugung. Sein Interesse daran entstand aufgrund eigener Unverträglichkeiten gleich nach dem Abitur und verstärkte sich während des Studiums. Kurz nach der Firmengründung stoppte die Corona-Pandemie alles. Die Zeit nutzte Jörg zum Tüfteln. Die Produktionsausrüstung ist nicht von der Stange, sondern selbst entwickelt. für die Luftumwälzung sorgen beispielsweise kleine Ventilatoren, die eigentlich für die Kühlung in PCs gedacht sind. Die achtstöckigen Regale hat ein Schreiner aus Holz gefertigt.
Der Vertrieb begann im Dezember 2020. Schnell wurden 100 Lebensmittelmärkte als Kunden gewonnen, 200 standen auf der Warteliste. Doch die Auslieferung war zu aufwendig. Aktuell werden rund 40 Restaurants im Raum Gießen bedient und Großhändler in ganz Deutschland und sogar Österreich, wie Jörg berichtet. Verwendet würden die Keimlinge als Dekoration in der gehobenen Gastronomie, aber auch in Kantinen, um mehr Nährstoffe und Geschmack ins Essen zu bringen. „Manche Kunden freuen sich bei jeder Lieferung und streicheln die Keimlinge“, berichtet der Unternehmer.
Das Geschäft läuft so gut, dass die Produktion in Gießen mit zunehmendem Umsatz sukzessive erweitert wurde. Inzwischen aber reicht das Gießener Gebäude nicht mehr. Darum baut Jörg in Kooperation mit dem Reutlinger Großküchenhersteller Rieber gerade einen zweiten Standort im süddeutschen Ludwigsburg auf. In einem alten Luftschutzbunker stehen ihm 1500 Quadratmeter zur Verfügung, sie sollen auch als Labor für Digitalisierung und Automatisierung dienen. „Das transformierte Industriegebiet urbanharbor ist eine art deutsches Silicon Valley mit vielen smarten Firmen – und Farm Up ist dabei“, schwärmt Jörg. Dort kommt er auch seiner Vorstellung von einer Kreislaufwirtschaft nahe, denn der Strom kommt von einer Photovoltaikanlage, geheizt wird mit Abwärme des benachbarten Blockheizkraftwerks.
Nicht aus Kalifornien, sondern aus new York stammt die Idee zu Vertical Farming. An der dortigen Columbia- Universität entwickelte der Mikrobiologe Dickson Despommier das Konzept dafür 1999 zusammen mit Studenten. Experten bezifferten den globalen Markt für Vertical Farming 2021 auf 4,21 Milliarden Dollar. Für 2026 rechnen sie mit 11,6 Milliarden. Nordamerika liegt an erster Stelle, Europa wächst am schnellsten. Das größte Problem ist derzeit die Rentabilität. Firmen, die groß gedacht und gleich viele Millionen investiert haben, sind pleite. Robin Jörg hat, wie er erzählt, drum bewusst klein und mit wenig Kapital angefangen. Die Expansion erfolgte erst, als die Nachfrage da war.
Der Gießener will nichts weniger als die menschlichen Essensgewohnheiten verändern, hin zu mehr Regionalität und Frische. Pilze sind nach seiner ansicht wegen der Proteine das Fleisch der Zukunft. Er kann sich auch vorstellen, irgendwann Salate in die Produktion aufzunehmen. Die Anwendungsmöglichkeiten des Vertical Farming hält er für „endlos“.
Wolfgang Oelrich